In unserer Tageszeitung war neulich ein großer Artikel mit der Überschrift "So kleidet sich der Gentleman von heute" zu lesen. Mode ist zwar nicht ganz mein Themengebiet, aber trotzdem begann ich interessiert zu lesen.
Der moderne Mann
Der Artikel begann mit der Feststellung, dass der moderne Mann es eigentlich gar nicht so leicht hat, schließlich muss er Rollenerwartungen erfüllen. Ein Vater sieht anders aus als ein Geschäftsführer, ein Konzertbesucher sieht anders aus als ein Fußballfan. Und ein Lebemann sieht anders aus als der gute Kumpel von nebenan. Blöd nur, dass all diese Attribute u. U. auf nur einen einzigen Mann zutreffen könnten.
Kleidung oder Verkleidung?
Wie also kleidet man(n) sich stilvoll, ohne verkleidet zu wirken? Was ist z. B., wenn der Schüler seinen Lehrer mit Glitzerhemd und Baggypants in der Stammdisco trifft? Geht das noch? Oder macht sich der ehrenwerte Lehrkörper dadurch lächerlich? Um diese und ähnliche modische Fragen zu klären, gibt es - laut Zeitungsartikel - so etwas wie ein Wiederaufblühen des klassischen Gentlemans, dessen 'Look' zu jeder Situation passt. Modeexperten raten daher zu konservativeren Kombinationen und klassischen Accessoires.
"Wo ist denn jetzt der Haken und wieso bloggst Du darüber?"
Ganz einfach: Damit das 'Styling' (von Anglizismen in der Modebranche möchte ich gar nicht erst anfangen...) nicht zu bieder wird, wird empfohlen, immer einen Bruch in sein 'Outfit' einzubauen; das kann ein Vollbart sein oder auch durch Sandalen statt Schuhe bewerkstelligt werden. Dies soll wohl die ideale Kombination aus Stilsicherheit (bieder) und Lebensfreude (modern) 'darstellen'. Dazu käme laut Modeexperten ein neu aufblühender Kult um das Rasieren oder den Zigarrengenuss. 'Darstellen' ist ein sehr passendes Wort, denn worum geht es bei Männermode? Doch hptsl. darum, sich als jemand anzuziehen, der man nicht ist, sondern gern sein würde. Beim Film nennt man diesen Berufsstand 'Darsteller' oder gar 'Schauspieler'.
Die oberen Zehntausend
Doch auch vor Frauen macht diese Entwicklung nicht halt. Im Verkaufsfernsehen wurde letztens eine Damenhose mit den Worten "diesen Look tragen sonst nur die oberen Zehntausend" beworben. Ein unfassbar hässliches Blumenmuster, billigster Stoff, unter vermutlich fragwürdigen Bedingungen irgendwo in Asien zusammengeschustert, alles zusammen für 29,95.
Verkauft wird nicht einfach nur eine Hose, sondern das Gefühl, sich zum Discountpreis zu den oberen Zehntausend (wer auch immer das genau sein soll...) zugehörig fühlen zu dürfen. "Diese Hose greift das Design aus Mailand, Paris und New York auf." Natürlich. Das ist in etwa so, als erzähle McDonald's, die Fleischmaserung der Buletten sei denen des Kobe-Rindes nachempfunden oder ihre Cola erinnere vom Farbton her an edlen dunklen Rotwein. Doch zurück zum Thema Kleidung!
Gehabe und Getue
Die ersten und beinah einzigen Wörter, die mir zu diesen Entwicklungen einfallen, sind 'Gehabe' und 'Getue'. Was spricht denn dagegen, durch Charakterstärke oder Freundlichkeit zu überzeugen und dabei etwas zu tragen, worin man sich wohlfühlt? Zumindest in der Freizeit dürfte das doch kein Problem sein.
Denn was habe ich - um zu den Herren der Schöpfung zurückzukommen - von einem aufgeblasenen Gockel, der die neusten Pflegetipps aus dem PLAYBOY befolgt, sich unfassbar teures Rasierwasser der Trendmarke XY ins Gesicht klatscht (und damit so Mainstream ist wie alle anderen 'Individualisten'...) und am Abend die 'trendigsten Drinks' bestellt (mit dem Wissen, dass er sich vorher in einem der vielen 'Männermagazine' angelesen hat), wenn er der Dame beim Eintreten die Tür vor der Nase zuknallt und vor lauter 'Style, Show and Shine' gar nicht mehr weiß, wohin mit seiner 'Coolness'?
So tun als ob
Dass meine Bedenken gegenüber solchen 'Stilbefolgern' nicht ganz unberechtigt sind, zeigt auch ein weiterer Satz des Artikels: "Der neue Gentleman zieht sich so an, als wüsste[!] er, wie das Leben zu meistern ist." Ich frage mich, wieso da ein Konjunktiv steht und denke an meine Jugend zurück: An all jene 'stilsicheren Diskothekengänger', die meinten, Papas Sakko zur Jeans mache sie zu weltgewandten Lebemännern und unwiderstehlichen Frauenhelden. Das ging auch immer nur so lange gut, bis das C&A-Schildchen aus dem Nacken baumelte (Papa hatte es wohl nicht so mit Mode).
Dann lieber authentisch!
Wie oft habe ich mir damals gedacht: "Dann lieber ohne Sakko und dafür authentisch!" Aber vielleicht war und ist Mode damals wie heute in erster Linie eine Erfindung der Werbeindustrie und letzten Endes doch nur ... 'Gehabe und Getue'.
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